Maria Ratschitz, Südafrika, Januar 2006

Hallo alle zusammen,

 

ich hoffe ihr habt Weihnachten und Neujahr gut und mit nicht allzuviel Kater überstanden. Bei mir war es vor allem Silvester, was Party betrifft, sehr ruhig.

Die Schwestern sind um 20.00 Uhr ins Bett und ich habe den Rest des Abends vor dem Fernseher verbracht. Wenn ich nicht einen Anruf um kurz nach zwölf bekommen hätte, hätte ich Silvester wahrscheinlich vollkomen verschlafen. Ausserdem hatte ich weder Weihnachts- noch Silvesterstimmung, da wir in dieser Zeit immer um die 30 Grad hatte. Und Silvester in kurzer Hose und Flip-Flops, naja...

Ruhig war die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester aber dennoch nicht, da ich, wie in meinem Weihnachtsrundbrief beschrieben, bis 28.12. Nachtschicht im Hospiz hatte. Diese Nachtschicht hat mir sehr viel gebracht, obwohl ich am Anfang gezweifelt habe ob ich es über Weihnachten machen will, habe ich später festgestellt es gibt eigentlich keinen besseren Ort Weihnachten zu verbringen als bei armen sterbenden Menschen. Was jedoch an der ganzen Sache schlimm für mich war, ist die Tatsache, das an Weihnachten zwei mir liebe Patienten gestorben sind. Jabulani in der Nacht auf den 24.12. und Makosi in der Nacht vom 25.12.. Was den zweiten Todesfall für mich persönlich schlimmer macht, ist , dass ich lange an ihrem Bett gesessen bin und ihre Hand gehalten habe, bevor sie dann ihren Kampf aufgegeben hat und entschlafen ist. Ich habe praktisch das erstemal in meinem Leben einen Menschen sterben sehen und den ganzen Kampf verfolgt.

Was ich darüber denke oder währenddessen gefühlt habe? Ich weiss es nicht mehr. Es klingt vielleicht etwas komisch, aber mein einziger Gedanke war bei Makosi und ich habe mir gewünscht das sie das Leiden aufgibt um sterben zu können. Wirklich realisiert was gerade passiert ist, was mir gerade passiert ist, habe ich das ganze erst später. Hey, du hast gerade jemanden sterben gesehen! Ein 24 jähriges Mädchen!

Was ich jetzt darüber denke/fühle? Schwäche und vor allem Sinnlosigkeit.

Die ganze Situation, das ganze Land ist so schwierig geworden. Und es wird immer schwieriger mit jedem Tag den ich hier bin und mich mehr damit beschäftige. Was soll ich den denken? Oder besser was soll ich tun?

Zu tun gibt es viel, das habe ich gelernt. Aber wie ich auch gelernt habe ist Medizin nur ein ganz kleines Feld, das die ganze Situation hier nicht an der Wurzel packt. Es ist wie einen Baum immer zuschneiden, nur um dann festzustellen , dass der Baum wieder nachwächst, grösser als vorher. Es gibt so viele Dinge über die wir Europaer wenig oder überhaupt nichts wissen.

Hey, ich hatte Geschichte-Leistungskurs und was weiss ich jetzt von Süd Afrika? Ein bisschen Burenkrieg, etwas Kruger-Depesche oder die Namen Paul Kruger, Cecil Rohdes und Nelson Mandela habe ich mal gehört. Und das war’s.

Was wissen wir den über die Geschichte dieses Landes vor der Kolonialisierung oder die genaueren Umstände die zur Apartheid und zu deren Auflösung geführt haben. Natürlich komme ich wegen meines jungen Alters aus einer anderen Zeit, aber wie genau das mit der ANC abgelaufen ist und was sich wirklich verändert hat, wissen wir in Europa doch nicht, oder?

Und vor allem, was wissen wir über die Probleme des heutigen Afrika mit dieser Vergangenheit. Ich lese gerade ein Buch von einem bekannten Süd Afrikanischen Journalisten, Max du Preetz „Pale Native”, der in einem Kapitel schreibt: But perhaps what disturbed me the most was the realisation that my dreams of a new, open, progressiv society after apartheid were false: the nasty white man in power had merely been replaced whit nasty black men.

Ich habe gemerkt das HIV/AIDS nicht das einzige Problem ist und eben die Medizin nur die Baumkrone anpackt. Ich will die Arbeit der Ärzte und Schwestern die hier arbeiten auf keinen Fall mindern, noch sagen , dass sie nicht notwendig ist. Nein, die Leute in den Krankenhäusen und Hospizen arbeiten hart und die Arbeit ist sehr wichtig.

Was dieses Land aber vor allem braucht ist Wissen. Ich meine keine zweite Koloniarisierung, sonst sind wir da wo wir vor 60 Jahren waren. Ich meine Lehrer. Lehrer in allen Lebenslagen: Landwirtschaft, Industrie, Wirtschaft, Education, usw... Jemanden der den Menschen zeigt wie es geht und wie nicht. Wenn ich mir denke das ich als (ich behaupte das jetzt einfach mal) Mensch mit gutem Grundwissen aus der Schule hierher komme und sehe das ich gar nichts weiss, wie soll dann ein kleiner Zulu Junge wissen wie die Welt da draussen funktioniert.

In dieser Mission, in der ich hier arbeite, werden verschiedene „Education-Seminare“ für Jugendliche abgehalten, um ihnen den Umgang mit Tradition, Liebe, Sex und HIV/AIDS beizubringen. Hier werden „Lifeskills“ beigebracht, die sie auf das Leben vorbereiten sollen und ihnen zeigen das man auch hinterfragen muss und in der heutigen Zeit nicht mehr alles so läuft wie zu Shakas Zeiten vor 200 Jahren. Bitte nicht falsch verstehen, man versucht hier nicht die Kultur zu ändern, sondern ihnen in manchen Situationen klar zu machen wie die Kultur damals gemeint war, wie sie heute ausgelegt wird, oder warum sie heute nicht mehr funktioniert.

Um das aus erster Hand zu erfahren und um nur richtige Fakten zu nennen, habe ich mich mit dem Leiter der Jugendgruppen unterhalten. Übrigens mittlerweile mein erster und einziger Freund hier in Maria Ratschitz. Er heisst Jabulani und ist 27 Jahre. Was wichtig ist, ist die Tatsache , dass er ein schwarzer Zulu ist. Das ist insofern wichtig, das die Jugendlichen sehen , dass einer von ihnen das alles erzählt und kein umlungo (weisser Mann).

Wir haben das ganze Gespräch dann „Issues that makes it difficult to deal with HIV/AIDS“ gennant. Hier ein paar Auszüge:

Als erstes einmal das Believe System: Hier kommt zum einen die, in einem vorherigen Brief schon erwähnte, Kindervergewaltigung zu tragen, bei der man glaubt dadurch das Virus loszuwerden. Allerdings konnte mir noch keiner sagen woher dieser Glaube kommt, da dies eine neue „Tradition“ ist und nicht vom traditionellen Glauben kommt. Ein Erklärungsversuch wäre (für mich ein logischer), das die Regierung AIDS kranken Müttern Neveraphin gibt, damit die Babys im Mutterleib kein AIDS bekommen. Die Menschen hier haben dies allerdings häufig falsch verstanden und glauben , dass die Regierung Kinder heilen kann und das man durch die Vergewaltigung dieser Kinder selber geheilt wird. Ein fatales Missverständnis.

Die Menschen hier glauben sehr an die Kraft ihrer Ancestors (Ahnen). Speziell die Menschen in den Rural Areas, die weniger aufgeklärt und gebildet sind. Hier ist der Glaube das HIV/AIDS (und andere Krankheiten) von den Ancestors oder durch Withcraft kommt. Man wird krank, weil die Ahnen böse auf einen sind oder weil man etwas falsch gemacht hat oder weil man verhext wurde. Man bleibt dann solange krank bis man eine Ziege geschlachtet hat oder zu einer Sangoma (Heiler/in), welche hier sehr populär sind, geht und von dieser erzählt bekommt was man tun muss. Beides ist sehr kostspielig, da sowohl bei der Schlachtung einer Ziege ein Umsebensi (Fest) gefeiert werden muss, aber sich auch die Sangomas ihre Dienste teuer bezahlen lassen. Wenn man hierfür sein letztes Geld ausgiebt bringt das natürlich noch mehr Depressionen.

Mit der Withcraft ist es ähnlich. Man sucht eine Sangoma auf wenn einem etwas passiert ist (Krankheit, Blitzschlag in deiner Nähe, eine Schlange im Haus,... eigentlich alles was einem nicht normal erscheint). Die Sangoma spricht dann als ein Medium zu den Ancestors und wirft ein paar Knochen und ähnliche Dinge. Je nachdem wie die Knochen fallen, sagt sie dir was zu tun ist und dir wird geholfen wenn deine Aufgabe/Sache erledigt ist.

Wenn man eine Krankheit hat und diese nicht los wird (wie z.B. AIDS) ist der Glaube, dass die Ahnen wollen das man eine Sangoma wird. Dies kann fatal sein z.B. nachdem man den Bescheid in einem Krankenhaus bekommen hat das man positiv ist „No, no, the ancestors wants me to become a sangoma...!“ oder „Oh! I’ve just done my degree, but now…”

Es ist natürlich ein grosses Problem jemanden zu helfen, wenn die Leute glauben alle Krankheiten kommen von den Ahnen (Was muss das für eine Verwandtschaft sein!) oder durch Witchcraft und nicht von Bakterien und Viren.

80% der Menschen in Süd Afrika gehen noch zu Sangomas.

Die Ancestors nehmen übrigens einen wichtigen Platz im Leben der Menschen ein, so sind sie nicht nur überall zugegen, sondern haben im Haus ihren festen Platz, wie einen kleinen Altar. Man schlachtet eine Ziege oder Kuh und feiert ein Umsebensi für die Ahnen auch nicht nur wenn es einem schlecht geht, sondern auch wen man etwas erreicht hat wie Schulabschluss, Führerschein,...

Zur Tradition und den Gebräuchen hier gehört auch die Polygamie. Darüber zu urteilen steht mir nicht zu, da es ein anderes Land und eine andere Kultur ist und das System der Polygamie früher auch nicht so schlecht war, da es sehr streng geführt wurde. Allerdings kostet eine Hochzeit 11 Kühe, die sich heute keiner mehr leisten kann. Deshalb können sich die Menschen keine Hochzeit mehr leisten und schlafen einfach in der Gegend umeinander. Und so kann man dem Virus nicht Herr werden.

Dazu kommt noch die Prostitution die blüht wie noch nie und Vergewaltigungen.

In Süd Afrika gibt es alle 26 Sekunden eine Vergewaltigung, 41% davon sind Kinder. Alle 5 Minuten wird eine Frau von ihrem Mann ermordet.

Im Jahr 2000 lag die Scheidungsrate bei 42%. 80% der Haushalte sind single-parenthood. 6-11% der Familien werden von Kindern geführt. Dementsprechend ist die Zahl 2006 höher.

Für den Status eines Mannes ist es sehr wichtig viele Kinder zu haben. Sie sind das ultimative Statussymbol (Wie in Deutschland zwei teure Autos in der Garage).

Es ist sehr wichtig das jemand da ist, der den Familiennamen weiter trägt wenn man stirbt. Wie schon erwähnt kann man nicht ohne Hochzeitsgeschenk (11 Kühe) heiraten. Wegen der Armut ist es sehr schwer dies zu bezahlen (Rand 33000-44000 entspricht 4500-5900 Euro). So they don’t get married and sleep around. Natürlich mit vielen Frauen und lassen überall ihre Kinder. Eine Frau hat auch viele Kinder von vielen Männern, dies zum einen aus Angst der Mann könnte sie verlassen, damit man etwas hat das ihn bindet, und, was ich in einem anderen Brief schon erwähnt habe, weil sie Kindergeld vom Staat für jedes Kind bekommen (190 Rand entspricht 23 Euro). Das reicht natürlich hinten und vorne nicht, jedoch hat man dann wenigstens etwas zu essen und bei vielen Kindern viel Geld. Das natürlich die Mutter satt wird und viele Kinder an unterernährung sterben ist klar. Makes it double Tragic.

Ein Mann mit vielen Kindern wird um 9 Uhr begraben ein Mann ohne Kinder um 14 Uhr, was sein Ansehen schmällert. Sogar nach dem Tod ist das noch wichtig. Es ist einfach unvorstellbar und unmöglich ohne Kinder zu leben.

In der Jugendgruppe stellt Jabulani immer ein paar Fragen am Anfang:

Alle die Glauben AIDS existiert: 100% heben die Hand
In Süd Afrika: 100% heben die Hand
In Kwazulu-Natal: 70-50% heben die Hand
In eurer Gegend: 50-30% heben die Hand
In eurer Familie, oder das es euch treffen kann: nur mehr 20% heben die Hand

Things to think about:
80% der Patienten wissen nicht das sie HIV/AIDS haben
Es gibt Kliniken wo noch kein negativer Test gemacht wurde

Soviel für heut, ich fahr demnächst in den Urlaub (und ich hab zum ersten mal das Gefühl ihn zu brauchen).

An alle  
 
Liebe Grüsse und Gottes Segen
 
 
 
Bernhard

P.S.: Die Jugendarbeit leistet gute Arbeit und wenn auch nur ein Jugendlicher aus dem Unterricht geht und sein Leben ändert, war die ganze Arbeit ein Erfolg. Es ist auch ein System von Care-Givers von den Schwestern ausgebildet worden, die in den Dörfern vor Ort Hilfe leisten, dort werden vor allem Food-Parcels verteilt und sich um die Kranken gekümmert. Aber auch diese Arbeit kostet natürlich Geld und sollte ausgebaut werden. Sie wird jedoch fast nur durch Spenden finanziert, aber betteln werde ich wenn ich wieder zu Hause bin...

P.P.S.: Ich möchte mich noch bei allen entschuldigen, die das geschichtliche Wissen hatten, welches ich nicht vorausgesetzt habe.